Leseprobe:
Birgit Letze-Funke
Auszug aus
„Geheimes Frauenwissen“
Alte Liebe
Die Luft flirrt. Kein Windhauch bewegt den Dutt der Dame vor mir. Wie ein Hurrikan stürmt Annegret in den Saal, hastet bis zum Podium, sieht sich kurz um, schiebt quer durch den Raum und lässt
sich neben mir auf dem letzten freien Platz in der zweiten Reihe nieder. Diesen Stuhl musste ich mit Zähnen und Klauen verteidigen. Warum all diese verschwitzten mehr oder minder alten Leute um
mich herum die unerträgliche Hitze in Kauf nehmen, ist mir ein Rätsel. Annegret hätte bei ihrem Auftritt beinahe den Infoaufsteller neben dem Eingang umgerissen: „Seniorenakademie. Heute 16
Uhr. Vortrag mit Hans-Werner Palutzke“. Und jetzt fächelt der Dutt vor mir auch noch mit einem Programmzettel unablässig heiße Luft in mein Gesicht. Den letzten Bissen vom Prasselkuchen stopft
Annegret eilig in sich hinein, weil es gleich vier ist und verschluckt sich prompt daran. Ich klopfe wild auf ihrem Rücken herum, als sie die Arme hochreißt und dunkelrot anläuft. Glück gehabt.
Alles wieder gut. Jetzt hüpft Annegret auf ihrem Stuhl herum wie ein junges Ding, knufft mich unablässig am Arm und fragt wohl zum hundertsten Mal, wie spät es ist, ob Hans-Werner sie wohl
wiedererkennt, ob sie einigermaßen aussieht. Ihr HaWe von damals, den Onkel Gerhardt als Hippie beschimpft und mit einer Grundsatzdiskussion über Haarlänge und anständige Kleidung genervt hatte
bis er türenschlagend verschwand und niemals wiederkam. Annegret wird das Onkel Gerhardt niemals verzeihen. Bis in den Tod nicht. Immer wieder schaut sie zur Tür, dreht nervös die Serviette vom
Prasselkuchen zu einer Wurst und zupft an ihrem Rock herum, der tadellos sitzt und ganz und gar keiner Korrektur bedarf. Ich kann Annegrets Geschichte von HaWe und Onkel Gerhardt nicht mehr
hören. Sie redet seit zwei Wochen von nichts anderem.
Der Dutt vor meiner Nase dreht Richtung Tür, und endlich tritt Hans-Werner Palutzke auf. Annegret erbleicht für einen Moment und starrt mich an, als ihr Traummann von damals seine Stimme
erhebt: „Sie werden entschuldigen, det ick ma vaspätet habe. Aber die Schandschnauze von eener Portjeeschen krichte einfach nich det Jas aus’m Kiefermotor. Sacht die: Is nich mehr heute und so…
Dabei habe ick dit schriftlich. Eine höfliche Aufforderung, ma heute hier einzufinden, zwecks Vortrach zum Thema ‚Berliner Liedjut, det sich mit unsern Dialekt familiär machen tut‘.“
„Ist der komisch!“, entfährt es mir, und Annegret zerschmilzt neben mir wie ein Schokoladenosterhase in der Sonne. Einen Riesen, einen Adonis hatte ich mir vorgestellt, wenn sie von ihrer ersten
großen Liebe schwärmte. Unsympathisch ist der nicht, denke ich, aber irgendwie wirkt alles an dem zu groß, sogar die Haare! Ich will nicht lachen. Wirklich nicht. Wirklich. Aber ich muss. Der
ganze Saal lacht jetzt mit mir. HaWe scheint zufrieden, schmeißt sich in Positur und lässt uns wortreich am Sieg über die Portjeesche teilhaben: „Ick also zu se: Aus dem Weg, sonst fällste
uff’s Gesäß, mein Kind. Ick jeh da durch. Da werden Ihre hundertfünf Kilo Lebendjewicht Hans Werner Palutzke nich hindern, uff die erste Geije mitzuspielen. Sehn’se, für den Zweck hab ick zwar
keene Geije mitjebracht, aber ein musikalisches Ergänzungsstück, det Ihnen de Stimmritze verschlächt!“
Mit großer Geste zeigt dieser Herr Palutzke zum Klavier. Den Dutt vor mir schüttelt es vor Lachen, als er seine großspurige Ankündigung wiederholt, aber einfach kein Ergänzungsstück erscheinen
will. Mein Mitgefühl ist geweckt und für einen Augenblick wäre ich bereit, in diese Bresche zu springen, nur damit Annegrets HaWe nicht so blöd dastehen müsste. Kleinlaut erklärt der uns, dass
jetzt eigentlich Frau Krause auftreten sollte. Dieser Moment der Irritation und Schwäche währt nur einen Annegret-Augenaufschlag lang, ist sauber platziert und weicht prompt mannhafter
Empörung: „Wissen’se, et jibt heutzutage so schlecht jutet Personal.“...
Broschiert: 80 Seiten
Verlag: Spica Verlag GmbH (14. Januar 2020)
ISBN-10: 3946732607
ISBN-13: 978-3946732600
Preis: 12,80 €
Auch bei der Autorin bestellbar.